1990: Frage der Wiedervereinigung

Als sich am 9. November 1989 die Mauer öffnete, bestanden die beiden deutschen Staaten seit 40 Jahren. In den 1950er Jahren war die Deutschlandpolitik auf beiden Seiten noch von den verschiedenen Vorstellungen einer baldigen Wiedervereinigung geprägt. Nach dem Mauerbau 1961 und mit Willy Brandts neuer Ostpolitik entwickelte sich eine Entspannungspolitik zwischen beiden deutschen Staaten. In einem langsamen Normalisierungsprozess begannen sich die Berliner/innen in ihrem Alltag an die Teilung ihrer Stadt zu gewöhnen.
Zumal die Mauer durch die Passierscheinregelungen erste "Löcher" bekam und sich der Reise- und Besuchsverkehr schrittweise verbesserte. Die deutsch-deutschen Beziehungen wurden ausgebaut. Die SPD suchte, auf Berliner genauso wie auf Bundesebene, das Gespräch mit der SED. Diese Dialogpolitik konzentrierte sich auf die Staatspartei; nur einzelne Sozialdemokrat/innen hielten Kontakte auch zu Oppositionskreisen in der DDR.

Anna Damrat, 1989-1999 Mitglied des Abgeordnetenhauses und 1990-2000 Landesvorsitzende des ASF

Mit den revolutionären Veränderungen in der DDR hatte kaum jemand in diesem Tempo gerechnet. Die erstarkende Opposition und die demokratischen Initiativen im ostdeutschen Staat wurden zwar von Westberliner Politiker/innen begrüßt, aber selten offiziell unterstützt. Um nicht deren gewaltsame Niederschlagung zu provozieren – wie es 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in Prag passiert war – bemühte man sich in der öffentlichen Diskussion um vorsichtige Formulierungen.

Ingrid Stahmer, 1989-1991 Bürgermeisterin Berlins und und Sozialsenatorin

Die angedachten „zwei Wohnungen in einem europäischen Haus“ gingen von dem einstweiligen Fortbestehen der beiden deutschen Staaten aus. Diese zurückhaltenden Stellungnahmen zum Thema Wiedervereinigung schienen angebracht, da die Situation im Sommer 1989 keine stabile und die DDR immer noch Teil des Warschauer Paktes war. Es konnte auch in den Tagen nach dem 9. November 1989 keineswegs ausgeschlossen werden, dass die Truppen doch noch in Ost-Berlin eingreifen würden. Daher sprach der Regierende Bürgermeister Walter Momper am 10. November 1989 von einem „Wiedersehen“ und nicht von Wiedervereinigung – eine Zurückhaltung, die viele Sozialdemokrat/innen, zumal mit Ostbiografie, kritisch sahen.

Norbert Meisner, 1989-1991 Finanzsenator

Willy Brandt stand gemeinsam mit Momper bei der Kundgebung am 10. November 1989 auf dem Podium vor dem Schöneberger Rathaus. Die berühmten Worte, dass nun zusammenwachse, was zusammen gehört, sprach er in seiner Rede nicht – wohl aber in einem Interview mit der Berliner Morgenpost am selben Tag. Zeit für ein behutsames Zusammenwachsen hatten die Deutschen mit dem Beschluss zur Einheit am 3. Oktober 1990 nicht. In Berlin, das 28 Jahre lang durch die Mauer getrennt war, war die Zustimmung zur Wiedervereinigung der Stadt wohl noch am größten.

Anna Damrat, 1989-1999 Mitglied des Abgeordnetenhauses und 1990-2000 Landesvorsitzende des ASF

Die Frage der Wiedervereinigung
1989: Der rot-grüne Senat / "Das Feminat"
Teilung und Alltag
Migrationspolitik in Berlin
1968: Höhepunkt der Flügelkämpfe
Mauerbau
1958: Der Wechsel an der Spitze von Franz Neumann zu Willy Brandt
Die Falken
1945-1961: Die SPD in Ostberlin
1946: "Zwangsvereinigung" und Urabstimmung
1945: Wiedergründung der SPD